Corpus : Roman - copertina rigida, flessible

In einer langen weinseligen Nacht bekommt Paul zu hören, wie es dem Freund in der Zwischenzeit ergangen ist, erzählt es wiederum uns und ergänzt dabei Lücken, Ungereimtheiten mit Vermutungen, wie es gewesen sein könnte. Die Zeitebenen überlagern sich, die Zahl der Figuren bleibt überschaubar: Da ist Kai, der verhinderte Schauspieler, der nun sein Taxi zur Bühne macht -- und Christof lässt sich als erster Fahrgast auf das Spiel ein. Die schöne Szene endet jäh mit einem von Kai verursachten Unfall, durch den er und die Studentin Ina sich finden, verlieben und am Ende wieder verlieren. Oder ist Kai gar nicht mitverantwortlich für den Tod der Geliebten?

Christof kann den Trauernden nur hilflos, sprachlos in die Arme schließen. Zu sehr ist er mit seiner eigenen, scheinbar offenkundigen Schuld befrachtet. Ein an sich harmloser Jungenstreich, den er damals gemeinsam mit Paul ausgeheckt hat, führt zum wahrhaft fürchterlichen Tod seines Vaters. Dass Jahre später auch der Vater von Paul, ein lebenstüchtiger Winzer, reichlich melodramatisch aus dem Leben scheidet, wirkt überkonstruiert. Auf Teufel komm raus soll die Schuld-und-Sühne-Thematik an der Figur Pauls noch einmal gespiegelt werden.

Als weiteres Leitmotiv ziehen sich Lust und Last des Körperlichen ("ungeheuer, das Fleisch") durch die Erzählung. Das brennende Verlangen des katholischen Geistlichen nach menschlicher -- nein: fleischlicher -- Wärme nimmt zwanghafte Züge an, erscheint aber dank der einfühlsamen, nicht voyeuristischen Beschreibung ebenso nachvollziehbar wie die latente Homoerotik zwischen den heranwachsenden Freunden. Leider kommt dem forschenden Beobachter Orths immer wieder der forsche Analytiker in die Quere. Vielleicht um zu signalisieren, dass sein merkwürdig zeitloser Roman in den 90er-Jahren spielt, legt er seinem Personal schlaue Sätze über "geschlechtliche Identitäten (...) mit dem falschen Stempel der Natürlichkeit" in den Mund, denen sich allenfalls ein an Musil gemahnender "Möglichkeitsmensch" entziehen könne.

So bleibt man hin- und hergerissen wie bei einem guten, aber noch nicht ausgereiften Wein, der in dem Buch übrigens keine ganz geringe Rolle spielt ("Wein fährt man wie Nitroglycerin."): Das Potenzial ist unverkennbar, doch bleibt der Genuss durch geschmackliche Unstimmigkeiten getrübt. Anlässlich von Gregor Hens' Himmelssturz und einer Reihe weiterer Debütromane junger Autoren, hat eine Kritikerin augenzwinkernd von einem möglichen "Bürschleinwunder" jenseits der Popliteratur gesprochen. Wenn Markus Orths künftig mehr auf seine erzählerischen Qualitäten vertraut, könnte er dazu einen gewichtigen Beitrag leisten. --Patrick Fischer